Bretagne-Tipp
mittendrin im Bretagne-Urlaub
Ein Bretagne-Stillleben? Ein Besuch auf einem Bretagne-Großmarkt? Nein: Bauernprotest in der Bretagne. Es entlud sich nicht nur der Bauernzorn, sondern es ergoss sich auch eine Blumenkohl-Flut über mehrere Orte des Nordfinistères.
Ungefähr 500 Tonnen ihres Exportschlagers kippten die aufgebrachten Bretonen im Herbst 2004 auf die Straßen. Die niedrigen Absatzpreise für Blumenkohl hatten die Wut der bretonischen Gemüsebauern entfacht.
Aber es sind nicht nur die Bauern. Im Mai 2008 erzürnen die ja auch bei uns drastischen Dieselpreiserhöhungen die Fischer in ganz Frankreich. Auch in der Bretagne kommt es zu Protestaktionen. Wie die Bauern befinden sich die Küstenfischer der Bretagne in einem permanenten Existenzkampf, für dessen Ausgang die Treibstoffkosten ausschlaggebend sein könnten. Mit spektakulären Aktionen wie einer Blockade der durch die Bretagne führenden Nationalstraße N 12 machen Sie Hand in Hand mit den Gemüsebauern auf Ihre Lage aufmerksam. Und diesmal werden keine Blumenkohlköpfe eingesetzt, sondern reichlich Tomaten.
2013 steht in Frankreich die Ökosteuer (franz. écotaxe) für Lastwagen im Mittelpunkt der Kritik. Sie soll dem Staat nicht nur Mehreinnahmen garantieren, sondern auch die Spediteure dazu bringen, auf umweltfreundlichere Transportmittel umzusteigen. Die Bauern in der Bretagne sehen ihre Existenz durch die Ökosteuer zusätzlich bedroht. Nach Aktionen gegen LKW-Mautanlagen und einer Welle von massiven Protesten in der Bretagne setzt die Regierung Ende Oktober die Einführung der Steuer in ganz Frankreich aus.
Massive Bauernaktionen sind in der Bretagne keine Seltenheit - wie in ganz Frankreich, man denke an José Bové - und sie haben Tradition. Blumenkohlköpfe rollten bereits vor 2004 aus Protest gegen die Brüsseler Agrarpolitik, sogar Bahnhöfe wurden damals von aufgebrachten Bretonen besetzt und Protestfeuer auf Bahngleisen entfacht. Im Jahre 2000 waren Bauern der Bretagne maßgeblich an den Aktionen im "Dieselstreit" beteiligt, 1960/61 wehrten sich zahlreiche Bauern im Finistère im "Artischockenkrieg" gegen die Gemüsehändler.
Der Sozialist und spätere französische Staatspräsident François Mitterrand beschrieb es 1973 in Morlaix so: "Die Bretonen sind großartig. Wenn ich am Montag meine Zeitung aufschlage, sehe ich, dass sie Artischocken in den Hof der Unterpräfektur schütten, am Dienstag sind es zur Abwechselung Kartoffeln, am Mittwoch versperren sie Straßen, am Donnerstag gehen Fensterscheiben zu Bruch, am Freitag blockieren sie die Avenue de l'Opéra und buhen den Finanzminister aus, am Samstag weiß ich nicht, was sie machen, und am Sonntag wählen sie die Regierung" (1).
Die "Tradition" der Bauernproteste lässt sich weit zurückverfolgen. So gab es während der französischen Revolution auch Bauernaufstände in der Bretagne, zunächst für die Revolution, dann dagegen. Im Jahre 1675, also gut ein Jahrhundert zuvor, revoltierten 20.000 bretonische Bauern gegen die Steuererhebungen des französischen Staates, formierten sich zu einer Armee der Rotmützen und plünderten Schlösser, Kirchen und Klöster (→ Bretagne Geschichte).
Hier schließt sich der Kreis und wir sind zurück im Jahr 2013, wo zwar alles zivilisierter abläuft, man aber bei den Protesten gegen den französischen Staat plötzlich jede Menge Bretonen mit roten Mützen sieht. Sie scheinen immer mehr zu werden - sogar die magische Zahl aus der Bretagne-Geschichte taucht wieder auf.
20.000 "Bonnets rouges", wie die Rotmützen auf Französisch heißen, sollen im November 2013 auf der Demonstration in Quimper gewesen sein, und noch viel mehr in Carhaix (siehe hier auf Youtube). Nicht allein die Ökosteuer, auch die Sorge um sichere Arbeitsplätze und der Wunsch nach einer lebenswerten Zukunft mit weniger Paris und mehr Bretagne vereint die Menschen unter den roten Mützen und den bretonischen Fahnen.
In den folgenden Jahren wird es still um die Rotmützen. Ende 2018 erscheinen dann auch in der Bretagne die Gelbwesten. Sie tragen als Erkennungszeichen gelbe Warnwesten und werden in gewisser Weise von den gleichen Sorgen wie die Rotmützen angetrieben. Gut ein Jahr lang demonstrieren sie überall in Frankreich an den Samstagen. Und aktuell? Wie überall hält 2020/21 die Menschen in der Bretagne Corona in Atem. Das heißt natürlich nicht, dass die Stimmen des Volkes mitten in Corona-Zeiten verstummen. So betont ein Graffiti in der Bucht von Morlaix, dass die Freiheit (symbolisiert durch die Nationalfigur der Marianne) essenziell ist, und fordert, dass sie von ihren Ketten befreit wird ("essentielle et sans chaînes"):
Mit der Wiederbelebung der Rotmützen sind in der Bretagne die Forderungen nach Erweiterung der Region verstärkt zu hören. Loire-Atlantique (44) mit seiner Hauptstadt Nantes soll als 5. Département wieder zur Bretagne gehören (→ Bretagne Info). Hier geht es nicht um eine Region als Verwaltungseinheit im zentralistischen Sinne, sondern um bretonische Identität, ein regionales Zugehörigkeitsgefühl, bewirkt durch einen historisch-kulturellen Zusammenhang mit gemeinsamen Werten und Traditionen. Es ist das Selbstverständnis, eine keltische Nation mit eigener Kultur, Flagge und Nationalhymne zu sein.
Die bretonische Einheit existiert in den Herzen und Köpfen vieler Bewohner der 5 Départements, die sich vorrangig als Bretonen sehen und dies mit Worten, Fahnen, Bzh-Abzeichen (Bzh = Breiz'h, bretonischer Name der Bretagne) und kulturellen Veranstaltungen zum Ausdruck bringen. Auch das in allen 5 Départements verwendete wirtschaftliche Label "Hergestellt in der Bretagne (Produit en Bretagne)" oder der touristische Slogan der Gegend von Guérande bis Pornic im Département Loire-Atlantique als "Bretagne tief im Süden (Bretagne plein sud)" zeugen von diesem Selbstverständnis.
Als Reaktion auf Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und ein Frankreich mit seinem immer noch starken Zentralismus setzen die Befürworter der erweiterten Bretagne auf Regionalisierung und Akzeptanz von kultureller Vielfalt und Identität von Regionen. Sie wünschen sich Selbstverantwortung und Zusammenarbeit statt Verordnung von oben als Basis einer Wettbewerbsfähigkeit, um die bestehenden wirtschaftlichen Probleme der Region meistern zu können. Die Bretonen haben sich viel vorgenommen.